Was ist bloss mit unseren Spitälern los (1/5)

Das Lamento ist aus allen Regionen zu hören: Die Spitaltarife decken die Kosten nicht mehr. Doch das ist nur ein Aspekt der tiefgreifenden Krise, in der viele Spitäler stecken. Die Gründe sind vielschichtiger – und mannigfaltig. Eine Annäherung.

Anna Wanner, 05.08.2024, 05.00 Uhr

Die Spitäler werden selbst zu Patienten
Die Millionendefizite, welche die Spitäler in der Schweiz aktuell einfahren, sind kaum mehr zu fassen. Seit der Veröffentlichung der Jahresberichte im Frühling toppt ein schlechtes Ergebnis das nächste: Das Unispital in Zürich weist für 2023 ein Minus von 49 Millionen Franken aus, das Zürcher Stadtspital Triemli schloss mit einem Minus von 40 Millionen Franken. Sogar das finanziell bisher stabile Unispital Basel weist ein Defizit von 50 Millionen Franken aus. Und die Inselgruppe in Bern schrieb ganze 113 Millionen Franken Verlust.

Die Ergebnisse der Kantonsspitäler sind auch nicht besser. Die vier St.Galler Spitalverbunde schrieben rund 59 Millionen Franken Verlust. Das Kantonsspital Baselland sowie die Solothurner Spitäler wiesen je ein Minus von 25 Millionen aus, jenes in Winterthur 50 und jenes in Freiburg 37 Millionen. Und das Kantonsspital Aarau schloss zwar mit einer schwarzen Null, aber nur dank einer Finanzspritze des Kantons über 240 Millionen Franken.
Die Missstände erreichen die Öffentlichkeit tröpfchenweise, für 2023 fehlt die grosse Übersicht. Doch bereits 2022 schrieben die Spitäler ein summiertes Defizit von über 301 Millionen Franken. 2023 wird es noch grösser ausfallen.
Was ist bloss mit unseren Spitälern los? In Dutzenden Gesprächen mit Experten aus der Medizin, aus Spitalleitungen, Krankenkassen und der Politik versuchte die Redaktion von CH Media, diese Frage zu ergründen. In einer losen Serie vertiefen wir Themen wie politisches Versagen, Tarifstreit und Führungsschwäche, um ein umfassendes Bild der Situation zu zeichnen.
Denn Hoffnungen, es könnte sich um vorübergehende Nachwehen der Corona-Zeit handeln, haben sich zerschlagen. 2024 gehen die finanziellen Probleme nahtlos weiter. Das Berner Inselspital hat bereits im ersten Halbjahr Defizite in der Höhe von rund 60 Millionen Franken eingefahren und als Reaktion darauf die Führungsriege ausgewechselt und ein rigoroses Sparprogramm angesetzt.

Tiefe Tarife, Teuerung und fehlende Fachkräfte
Milde formuliert: Es sieht gar nicht gut aus. In den Geschäftsberichten der Spitäler schwingt zwar immer etwas Optimismus mit, so konnte beispielsweise manches Haus die Zahl der Behandlungen steigern – und mehr Umsatz erwirtschaften. Doch reichen auch die zusätzlichen Anstrengungen nicht, endlich wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.
Regine Sauter, Präsidentin des Schweizer Spitalverbands Hplus, sagt: «Zuletzt hat sich das Problem der Unterdeckung der Leistungen akzentuiert.» Die Kosten für Energie, Material und Personal seien in allen Spitälern gestiegen. Doch diese lassen sich nicht wie in anderen Branchen auf die Kunden abwälzen. Dazu müssten die Tarife erhöht werden, die jedes Spital mit den Versicherern aushandelt. Doch von dieser Seite gab es zunächst wenig Entgegenkommen. Die Krankenkassen beharren darauf, dass sich die Spitäler effizienter organisieren, bevor mehr Prämiengelder eingeschossen werden.
Erst auf 2024 wurden die Tarife nun weitgehend angepasst. Allerdings kommt die Anpassung spät. Sie ist auch zu wenig substanziell und nicht nachhaltig. Sauter hält fest: «Es ist fatal, dass die Tarife lange nicht angepasst wurden und insbesondere nicht prospektiv an die Teuerung angepasst werden. Das versetzt viele Spitäler in eine finanziell schwierige Lage.»
Wer die Geschäftsberichte der Spitäler durchblättert, stösst überall auf die genannten Gründe: die tiefen Tarife, die Teuerung und die um 2, 5 oder 7 Prozent höheren Löhne, um den Weggang des Personals abzuwenden. Denn auch der Fachkräftemangel wirkt sich negativ auf die Finanzen der Spitäler aus.

Investitionen aus eigener Kraft nicht möglich
Was bei vielen Beobachtern die Alarmglocken schrillen lässt: Auch Spitäler, die stets gut wirtschafteten, können die Kosten nicht mehr decken – und so gewichtige Investitionen nicht mehr aus eigener Kraft stemmen. Sauter sagt, eigentlich müssten Spitäler eine Marge von 10 Prozent erzielen, um Investitionen zu finanzieren. «Das ist praktisch nicht mehr möglich.» Bei Spitälern, die am Bauen sind und grössere Investitionsvorhaben umsetzen müssen, komme es dann zu einer Krisensituation.
Tatsächlich lässt sich die miserable Situation auch in den Geschäftsberichten jener Häuser ablesen, die noch profitabel wirtschaften, aber die Margenziele nicht erreichen – etwa das Luzerner Kantonsspital (LUKS) mit einem Ergebnis von 1,6 Millionen Franken, Zug mit einem Plus von 675’000 Franken oder jenes in Baden, das mit 3,2 Millionen Franken Gewinn das «schwächste Jahresergebnis» seit 2012 einfährt, wie es schreibt. Das jeweilige Ergebnis reicht nicht, um anstehende Investitionen zu bewältigen. Das LUKS etwa will bis 2038 1,6 Milliarden Franken investieren.
Die 10-Prozent-Marge ist eine Voraussetzung für alle Häuser, um ihre Investitionen zu tätigen und finanziell selbstständig zu sein. Diese war Teil der Megareform zur Spitalfinanzierung, die das Parlament Ende 2007 verabschiedete. Das erklärte Ziel war es, die Kosten im gesamten Spitalbereich einzudämmen, ohne die Versorgung zu verschlechtern.

Kantone hintertrieben die Spitalpolitik jahrelang
Mit der Reform setzte die Politik auf Wettbewerb: Im Prinzip sollten sich jene Spitäler durchsetzen, die mit guter Qualität die Patienten zufriedenstellen. Eine freie Spitalwahl und volle Transparenz über die Qualität der Leistungen hätten dies ermöglichen sollen.
Die Betonung liegt auf «hätte». Der Wettbewerb funktioniert nicht. Denn den Patienten fehlt der Durchblick: Wer für welche Behandlung an welches Spital gehen sollte, um das beste Resultat zu erzielen, ist nicht einfach irgendwo abzulesen.
Erschwerend kommt hinzu: Seit 2012 steuern die Kantone die Versorgung, indem sie den Spitälern Leistungsaufträge erteilen. Diese haben sie allzu grosszügig vergeben – und vor allem zu zögerlich entzogen. Denn durch das neue Gesetz soll die Strukturbereinigung beschleunigt werden: Effiziente Spitäler mit qualitativ hochwertigen Leistungen sollen sich durchsetzen. Im Gegenzug sollten die Kantone defizitäre Betriebe schliessen, um die stationäre Überversorgung abzubauen.
Bereits in einem ersten Bericht über die Wirkung der Spitalfinanzierung konstatierte das Bundesamt für Gesundheit 2017, dass die Kantone die Kriterien für Wirtschaftlichkeit selber definierten und so auch die Abgeltung unterschiedlich festlegten. Das verzerrt den Wettbewerb zusätzlich.
Allerdings – und auch das ist ein Problem – wehren sich die Spitäler und mit ihnen häufig auch die ansässige Bevölkerung, wenn ein Leistungsauftrag entzogen wird. Sie gehen bis vor Gericht, was die Umsetzung der kantonalen Spitalstrategie teilweise um Jahre verzögert. Das Phänomen zeigt sich fast in allen Kantonen: Verzicht fällt Gesundheitsdirektoren, Spitälern wie auch der Bevölkerung äusserst schwer.
Weiter stellte sich auch bald nach der Einführung der neuen Spitalfinanzierung heraus, dass die Kantone ihre eigenen Häuser munter subventionieren. Die Höhe der gemeinwirtschaftlichen Leistungen (GWL) nahm innerhalb von sechs Jahren um rund 14 Prozent zu. Zusätzliches Geld erhalten die Kantone etwa für den Notruf, die Forschung und Ausbildung sowie einen Ausgleich aus «regionalpolitischen Gründen» – etwa wenn ein weit abgelegenes Spital mit begrenztem Patientenstamm funktionieren muss.
Eine Studie der Universität Basel schlüsselte die Finanzflüsse 2018 auf und bezifferte die Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen auf 1,8 Milliarden Franken. Hinzu kommen überhöhte Tarife und verdeckte Investitionen, etwa über tiefere Gebäudemieten. 2018 steckten die Kantone rund 2,5 Milliarden Franken zusätzlich in die Spitäler.


Strukturen bereinigen
Nicht jede abgegoltene Leistung ist erklärbar und auch nicht jede verstösst gegen das Gesetz. Trotzdem fällt die staatliche Unterstützung je nach Kanton sehr unterschiedlich aus, was einen fairen Wettbewerb weiter verunmöglicht. Klar ist: Indem sie die Löcher der Spitäler mit Geld stopften, hintertrieben die Kantone die Spitalfinanzierung über Jahre. Erst durch den wachsenden finanziellen Druck wird die Frage gestellt, ob es wirklich alle Spitäler braucht.
Solche Überlegungen gibt es überall: im Aargau mit dem Spital Zofingen, in Luzern mit dem Spital Wolhusen, im Zürcher Oberland mit Wetzikon. St.Gallen hat die Entwicklung schon vor drei Jahren angestossen, als es aufgrund der miserablen Finanzlage der Spitäler beschloss, fünf von neun Betrieben zu schliessen. Im März erklärten beide Appenzell, mit St.Gallen die Spitalplanung gemeinsam zu entwickeln, um Doppelspurigkeiten zu vermeiden. Eine breitere Zusammenarbeit mit Graubünden und Glarus misslang.
Dabei muss nicht jedes Spital den Betrieb schliessen. Es gilt zu klären, wie die Aufgaben aufgeteilt werden, damit die Überversorgung abgebaut und die Grundversorgung gesichert werden kann.


Gefahr der unkontrollierten Abwicklung
Gegenteilige Bewegungen gibt es auch: Anstatt den Übermut gewisser Spitäler zu bremsen, wird er über neue Leistungsaufträge sogar noch alimentiert. So haben in der Ostschweiz erst die Krankenkassenverbände das Projekt des Kantonsspitals St.Gallen vorerst gebremst, das eine neue Herzchirurgie aufbauen will.
Grundsätzlich verantworten darum die Kantone die Überkapazitäten, wenn sie ihre Rolle in der Versorgungsplanung nicht richtig wahrnehmen. Weil leere Betten und vor allem leere Operationssäle unglaublich teuer sind, kommt es zu einer eklatanten Misswirtschaft und zu Qualitätsproblemen.
Das fällt gerade vielen auf die Füsse. Wegen zunehmenden Kostendrucks und der gleichzeitig ausgebliebenen Strukturbereinigung wollen auch die Kantone nicht mehr jede Lücke stopfen. Beispielsweise das Spital im zürcherischen Wetzikon, das ein Darlehen nicht refinanzieren konnte, liess die Zürcher Regierung auflaufen. Es sei für die Versorgung nicht relevant.
Für Gesundheitsökonom Heinz Locher ist die Entwicklung höchst alarmierend. Er sagt: «Wenn die Kantone beginnen, die Finanzprobleme ihrer Spitälern selber zu regeln, sehen wir eine unkontrollierte Abwicklung von Spitälern, die für die Versorgung eigentlich notwendig sind.» Auch die Leistungen von Wetzikon könne nicht so leicht aufgefangen werden. Immerhin werden dort jährlich 800 Kinder geboren.
Die problematische Entwicklung sei schon weit fortgeschritten, aktuell sichtbar beim Unispital Basel, das ein zinsgünstiges Darlehen über 300 Millionen Franken vom Kanton erhält – und dieses bei Finanzproblemen wohl auch nicht zurückzahlen muss. Die Freiburger haben ihrem Kantonsspital im Juni an der Urne 175 Millionen Franken zugesprochen. Und im Wallis prüft die Kantonsregierung die Spitalimmobilien der Verwaltung des Staates Wallis zu übertragen, weil die Spitalgruppe HVS keine Mittel für Investitionen hat. Heinz Locher prophezeit: «Bald rattert es überall in der Schweiz, Spitäler kollabieren unter den Defiziten und die gute Leistung kann nicht mehr garantiert werden.»
Tatsächlich führen die aktuellen Umstände dazu, dass nun auch gesunde Spitäler wie das Kantonsspital Baden plötzlich wieder nach staatlichen Mitteln rufen. Sie wollen gleichlange Spiesse. Die Finanzhilfen der Kantone blockieren den Wettbewerb weiter und das Überleben eines Spitals hängt nicht von dessen qualitativen Leistung ab – sondern von einem guten Draht zur Regierung.

Quelle: https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/spitalmisere-in-der-schweiz-teil-1-was-ist-bloss-mit-unseren-spitaelern-los-ld.264421



19 Kommentare
Joe Lindenberger
vor 6 Monaten
38 Empfehlungen
An dieser Stelle herzlichen Dank an alle Menschen, die in den Spitälern  alles für ihre Patienten (=  für uns) Tag täglich, 24 Stunden, 7 Tage,  mit  herausragedem Fachwissen, enormem Arbeitseinsatz unter bewundernswertem Umgang  physischer  und mentaler Belastung. Ich hoffe und appeliere an die Politik, dass die finanziellen Probleme an den richtigen Stellen unter strategischen Gesichtspunkten (nicht Pflästerlipolitik) angepackt werden und keinesfalls  beim Spitalpersonal. 
Rolf Zysset
vor 6 Monaten
37 Empfehlungen
Es liegt nicht an uns, ausser den notorischen Notfallbesuchern. Die Gründe sind oft augenscheinlich. Der längst überflüssige Föderalismus, die Tantiemen „unserer“ Politikern, die Geldgier der Pharma, der Lobbyismus im Bundeshaus, die auf Reingewinn ausgerichteten privaten Spitäler, unzählige Krankenkassen, die mit erheblichem Finanzaufwand einander Kunden abwerben, falsche Mimositäten unter den „Starmedizinern“ wo nur auf ihre eigenen Pfründe schauen. Es gäbe wahrscheinlich noch viele andere Kostentreiber. Bei all meiner genannten Argumente sind nicht wir, das gewöhnliche Fussvolk, gefordert. Nein es wären unsere Gewählten, welche eigentlich für uns schauen müssten.  Aber eben, wenn der schnöde Mammon ruft.